Als ich 12 Jahre alt war, ging ich zum örtlichen Brettspielladen und kaufte mir von meinem sauer angesparten Taschengeld das Players Handbook von „Advanced Dungeon and Dragons“, 2. Auflage. Es war sofort um mich geschehen. In den folgenden Wochen besorgte ich mir das Buch für den Spielleiter und das „Monster Kompendium“, und gleich darauf ging es los: Mit ein paar Freunden begannen wir unsere ersten Abenteuer.
Ich habe diese Bücher geliebt. Aber am lebhaftesten erinnere ich mich an einen Absatz auf den ersten Seiten des Spielerhandbuchs. Es ist eine Beschreibung einer kurzen Rollenspielsitzung, ein fiktives Transkript. Dieser kurze Absatz faszinierte mich. In ihm steckte das Versprechen unendlicher Möglichkeiten.
Ich bin jetzt in meinen Vierzigern, aber ich erinnere mich noch an dieses Gefühl von damals – nach all den Jahren, in denen ich mein Leben gelebt und die Realitäten der Welt (zumindest einige) kennengelernt habe, ist es zu einer fernen, nostalgischen Erinnerung geworden. Mit dem Alter ist die Begeisterungsfähigkeit und Vorstellungskraft ein stückweit verloren gegangen. Mit jedem Buch, Film oder Spiel wird es schwerer. Vieles ist nur Wiederholung, wirkt abgenutzt und blass. Es ist ein trauriger Prozess der Desillusionierung.
„Legacy of Dragonholt“ verspricht eine Rollenspielerfahrung auch für Einzelspieler. Um Enttäuschung zu vermieden, zwang ich mich, nicht zu viel zu erwarten. Aber als ich anfing zu spielen, geschah etwas sehr Unerwartetes. Dieses Gefühl, das ich mit zwölf Jahren hatte, als ich das erste Mal begriff, was Rollenspiel bedeutet, kam zurück. Nur ein bisschen, nur ein Funke davon. Aber ein sehr kostbarer.
Gameplay
„Legacy of Dragonholt“ ist schnell erklärt. Es ist ein „Choose-Your-Own-Adventure -Buch mit einigen gut designten, zusätzlichen Spielmechaniken. Für jene, die das Konzept nicht kennen: Es ist eine geschriebene Geschichte, in der der Spieler entscheiden kann, wie es weitergeht. Ein Beispiel: In der Geschichte heißt es, dass der Spielers vor einem Abgrund steht. Man hat nun die Möglichkeit, entweder zu springen oder einen anderen Weg zu gehen. Je nachdem, welche Wahl der Spieler trifft, ist ein anderer nummerierter Absatz innerhalb der Geschichte zu lesen, um fortzufahren. Im Ergebnis führt dies zu einer verzweigten Handlung. Abhängig von den Entscheidungen ändert sich der Lauf, den die Geschichte nimmt.
Dieses Konzept wurde von Fantasy Flight in „Legacy of Dragonholt“ stark aufgepeppt. Bevor das eigentliche Spiel beginnt, ist ein Charakter zu erstellen. Man wählt einen Namen, eine Rasse und eine Klasse. Anstelle von numerischen Attributen ist dann eine Anzahl vorgegebener Fähigkeiten für den Charakter zu bestimmen. Während der Name, die Rasse und die Klasse sowie die optionale Beschreibung des Hintergrunds und der physischen Beschreibung des Charakters „nur“ ein Katalysator für die Atmosphäre sind, ist die Wahl der Fähigkeiten ein entscheidendes Element des Spiels. Die Fähigkeiten werden als „On-Off“ -Mechanismus behandelt, d.h. es gibt keine Abstufung, keine numerische Verbesserung der einzelnen Fähigkeit. Entweder man hat sie, oder nicht. Kehren wir zum Beispiel mit dem Abgrund zurück. Wenn man während der Charaktererstellung die Fertigkeit „Athletik“ gewählt hat, eröffnet dies mit „Den Abgrund hinab und auf der anderen Seite wieder hinaufklettern“ eine weitere Möglichkeit, die Geschichte fortzusetzen. Nur Spieler mit dieser Fähigkeit dürfen diesen bestimmten Erzählzweig wählen. Das Skill-System mag eher simpel erscheinen, aber es verstärkt das Gefühl der Immersion. Es gibt dem Spieler ein Gefühl von Einzigartigkeit und Freiheit. Es vermittelt den Eindruck, dass diese Entscheidungen – und die Fähigkeiten – tatsächlich wichtig sind. Ich habe Reviews gelesen, in denen geschrieben wurde, dass die Entscheidungen in „Legacy of Dragonholt“ nicht wichtig sind, dass letztlich die Geschichte immer gleich verläuft. Dem muss ich widersprechen. Ich habe verschiedene Wahlmöglichkeiten überprüft und dabei zeigte sich, dass zumindest einige der Handlungsstränge sehr unterschiedlich sind.
Eine weitere sehr wichtige und sinnvolle Spielmechanik ist das Verstreichen von Zeit. Die Entscheidungen, die der Spieler trifft, führen oft dazu, dass „Zeit vergeht“. In diesem Fall muss der Spieler hierfür vorgesehene Felder ankreuzen (die entsprechenden Dokumente sind im Spiel enthalten, können jedoch auch online bezogen und ausgedruckt werden). In der Folge sind Geschehnisse nun davon abhängig, wie viele Kästchen angekreuzt, sprich: Zeit verstrichen ist. Ich dachte zunächst, der Zeitmechanismus sei nur ein Weg, um den Spieler von einem Abenteuer zum nächsten zu bringen. Weit gefehlt! In meinem Spiel führte meine Unachtsamkeit zu einem tragischen Ereignis, weil ich mir Zeit ließ, als ich hätte eilen müssen. Der Zeitmechanismus trägt wesentlich zur Immersion bei und gibt dem Spieler ein Gefühl der Dringlichkeit. Es macht das Spiel zu einer tieferen und befriedigenderen Erfahrung.

Es gibt weitere erwähnenswerte Aspekte von „Legacy of Dragonholt“. Spieler können etwa Gegenstände sammeln, die durch Karten repräsentiert werden, und die in der Folge – ebenso wie die Skills – die Wahlmöglichkeiten des Geschichtenverlaufs erweiterten. Auf dem „Dragonholt Village Tracking Sheet“, können die Spieler – abgesehen von der Zeit – Fortschritte in Bereichen wie Heldentum, Kampf/körperlichem Training oder spirituelle Meditation markiere. Sobald ein bestimmter Schwellenwert erreicht ist, wird der Spieler belohnt. Entscheidet man sich etwa, im Dorf bei der Ernte zu helfen, führt dies zu Fortschritt im körperlichen Training. Nach weiteren Fortschritten in diesem Bereich kann der Spieler einen zusätzlichen physischen Skill wählen.
All diese Elemente tragen zu einer Erfahrung bei, die irgendwo zwischen Spiel und Roman liegt. Aus meiner Sicht ist die Erzählung das Wesentlich, die Spielmechanik ergänzt diese jedoch auf eine sehr gelungen Art und Weise.
Ganz wesentliche Aspekte sind deshalb die Geschichte selbst und der Schreibstil. Die Geschichte ist ordentlicher Fantasy-Standard. Sie startet recht unspektakulär – der Charakter ist noch kein Held, noch nicht durch seine Taten bekannt, noch nicht mit legendären Gegenständen und Artefakten ausgestattet. Für mich war das ein Plus. Ich finde Geschichten glaubwürdiger, wenn der Leser nicht gleich mit Informationen und Ereignissen überhäuft wird. Der Rest der Geschichte ist eine Frage des Geschmacks – es werden viele Klischees bedient, dennoch ist sie aus meiner Sicht gelungen. Während eine kliescheehafte Geschichte nicht unbeding tlangweilig oder schlecht sein muss, ist ein klischeehafter Schreibstil fast nie verzeilich. Dieser ist in „Legacy of Dragonholt“ meiner Meinung nach völlig in Ordnung. Es finden sich jedenfalls keine Stimmungskiller wie ungenaue, abgedroschene Metaphern („Sein Herz schlug wie ein Vorschlaghammer!“). Die Einschätzung von Geschichte und Schreibstil werden für den einzelnen Spieler über Wohl und Wehe entscheiden. Mir hat beides gefallen, aber nicht jeder wird das so sehen. Man sollte sich vor dem Kauf also fragen, ob eine geerdete Fantasy-Geschichte, viel Lesen und hin und her Blättern, gewürzt mit einigen cleveren Spielelementen, einem zusagt.

Die Abenteuer sind in verschiedenen Heften zu finden, das dickste davon ist jenes über den Ort „Dragonholt“, in den man regelmäßig zurückkehrt. Dort nutzt man ebenso eine Karte, von der aus der Spieler unterschiedliche Orte ansteuern kann. Je nach Tag und Tageszeit ändern sich die Dinge. Und dann und wann wird der Spieler ins Abenteuer außerhalb der Stadtmauern geschickt. Dann kommen die anderen Abenteuerbücher ins Spiel.
Material und Setup
Das Spielmaterial ist gut. Es gibt fast keine Illustrationen, man muss sich auf seine Vorstellungskraft verlassen. Es gibt einige zusätzliche, physische Komponenten: Zwanzig Gegenstandskarten, die erwähnte Karte des Ortes, ein Tagebuch und einen Brief. Diese sind gut gemacht und stützen die Atmosphäre. Aber wie gesagt: Das Spiel basiert auf dem geschriebenen Wort.
Das Setup nimmt fast keine Zeit in Anspruch. Ein Blatt Papier, ein Stift und die Abenteuerhefte, und schon kann es losgehen.
Fazit
Insgesamt hat mich „Legacy of Dragonholt“ überrascht. Ich kann mich nicht erinnern, wann mich das letzte Mal ein Spiel derart in seine Welt hat eintauchen lassen. Gerade bei Standard-Fantasy hätte ich dies nicht erwartet. Ich durchlebte sehr intensive und dramatische Momente, in denen die Zeit verflog und ich das Spiel nicht aus der Hand geben wollte. Wenn ich jetzt darüber nachdenke, drängt es mich, nach Dragonholt zurückzukehren um zum nächsten Abenteuer aufzubrechen.
Da ich ausschließlich solo gespielt habe, kann ich mir ein Urteil über den Mehrspieler-Modus nicht erlauben. Ich kann mir gut vorstellen, dass es mit den richtigen Leuten auch in der Gruppe Spaß macht – das Konzept scheint jedoch sehr auf Einzelspieler abzuzielen.
„Legacy of Dragonholt“ bietet viele Stunden Spielspaß, und die Wiederspielbarkeit dürfte gerade mit einem anderen Charakter (und anderen Skills) gegeben sein. Es bleibt zu hoffen, dass Fantasy Flight weitere Abenteuer veröffentlicht, entweder in Terrinoth oder in einem komplett anderen Setting (Lovcraft bitte!).
Ich bin sehr dankbar für die Erfahrung mit „Legacy of Dragonholt“. Die Designer verdienen hohes Lob. Es ist ein außergewöhnliches Spiel – man spürt, dass es mit Sorgfalt designt wurde, dass die Spielelemente gut durchdacht und die Erzähl- und Spielmechanismen sinnvoll ausbalanciert sind. Man muss sich jedoch im Klaren darüber sein, was man bekommt – eine Fantasy-Geschichte mit cleveren Spielelementen. Ich denke, die Meinungen über „Legacy of Dragonholt“ werden stark auseinandergehen. Fest steht, dass wir hier ein Qualitätsprodukt vor uns haben. Und für viele – einschließlich meiner selbst – ist es viel, viel mehr.
Insgesamt: 9/10